Also sprach der Präsident oder Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit (Aulus Gellius)

Selten gibt es Dokumente, die in kurzer zeitlicher Abfolge unbeirrbare Widerständigkeit und humane Gesinnung so eindrucksvoll belegen, wie die folgenden Zitate, die zu lesen es sich trotz ihres Umfangs lohnt.

Alexander van der Bellen

In: nachgehakt.at / Interviews am Puls der Zeit, 16. März 2015

„Ich glaube, wenn ich mich öffentlich dazu geäußert hätte, wäre ich als Putin-Versteher diffamiert worden. Ich finde es skandalös, wie nahezu die gesamte europäische Presse, Österreich ist da keine Ausnahme, nicht einmal versucht russische Positionen zu verstehen. Die Krim war nie ukrainisch, außer in den letzten 50 Jahren. Chruschtschow hat die Halbinsel aus unerfindlichen Gründen damals der Ukraine angegliedert. Wenn es eine indigene Bevölkerung dort gibt, dann sind das die Tataren, sicher nicht die Ukrainer. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärisch-strategische Position Russlands. Als 1989 der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands bevorstand, ist Russland zugesichert worden, dass die NATO-Grenze nicht weiter nach Osten verschoben wird. Das geht aus US-Quellen hervor. Die Russen haben aber das Pech, dass das niemals schriftlich vereinbart wurde. Und was ist passiert? Die NATO-Ostgrenze verläuft heute direkt an den Grenzen zu Russland. Ich kann schon verstehen, dass das ein Stirnrunzeln in Russland hervorruft. Wenn Sie 200 Jahre zurückgehen, woher kamen alle Invasoren? Alle durch die Ukraine. Deswegen bin ich sehr erbost, wenn gesagt wird, dass von der Ukraine keine militärische Gefahr ausgeht. Ja natürlich, von der Ukraine selbst nicht, aber dass es sich um ein strategisches Vorfeld Russlands handelt, ist doch klar. Wie haben die USA in den letzten 100 Jahren reagiert, wenn vor ihrer Haustür eine potenzielle Gefahr entstand? Die haben sich auch nicht um das Völkerrecht gekümmert. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Ungeachtet all dieser Faktoren ist das Ukraineproblem lösbar. Aber es scheint auf beiden Seiten keinen guten Willen zu geben.“

Alexander van der Bellen

In: https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/eroeffnung-der-bregenzer-festspiele-2022

„…Wir leben in einer Zeit, wo die Grundelemente unseres Lebens angegriffen werden. Der Friede in Europa. Unsere Freiheit, unsere Demokratie, die Art wie wir leben wollen, unsere Versorgungssicherheit, und die Sicherheit insgesamt. Warum ist plötzlich alles unsicher, was über Jahrzehnte so sicher schien? Weil einige hundert Kilometer östlich von hier ein Diktator sitzt, der es nicht ertragen kann, dass Menschen in Europa in individueller Freiheit und Unabhängigkeit leben. Der vom verweichlichten, dekadenten Westen redet, der unsere Art zu leben, zutiefst verachtet. Weil er nicht erträgt, dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der jeder Mensch gleich viel wert ist. Das ist die Wahrheit und das ist der Kern der Sache. Weil der russische Präsident das nicht erträgt, hat er einen Krieg begonnen. Er lässt Bomben auf Städte und Dörfer werfen, treibt Millionen Menschen in die Flucht. Zehntausende haben bereits ihr Leben verloren. 

Während wir hier heute die Festspiele eröffnen, harren Familien in ukrainischen Städten in Kellern und Luftschutzbunkern aus. Weil das alles aus Sicht des russischen Präsidenten nicht genug ist, drosselt er die Gasversorgung in Europa und machen wir uns nichts vor, er wird sie ganz abdrehen, wann immer es ihm gefällt. Diese Abhängigkeit ist unerträglich! Aber es ist auch unerträglich, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, sich zum unterwürfigen Verbündeten eines Diktators zu machen. Zu all dem Unrecht zu schweigen. Wir sind nicht Putins Vasallen… 

Was heißt das für uns? Einerseits, dass wir beim Namen nennen müssen, worum in der Ukraine gekämpft, gemordet, gestorben wird: Nicht nur für die Unabhängigkeit der Ukraine. Um unser aller Lebensmodell, um politische Freiheit, persönliche Freiheit, den Rechtsstaat, Menschenrechte und Demokratie. Zum anderen, dass diese Energiekrise ein bewusst herbeigeführter, kriegerischer Akt ist. Dass die Inflation, die daraus entsteht, ein bewusst herbeigeführter, kriegerischer Akt ist. Dass Menschen in Österreich, in unserem wunderschönen Österreich, schwer leiden, in akuter Armutsgefahr sind und dass dies eine Folge dieses bewusst herbeigeführten, kriegerischen Aktes ist. Dass wir nicht zurück können in die Zeit davor. Nichts mehr wird so sein wie früher. Friede und Wohlstand sind nicht mehr selbstverständlich in Europa…“ 

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Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. Man muss dem HBP recht geben, die Krim war stets attraktives Ziel für zahlreiche Herrschaft, Griechen, Skythen, Römer, Goten, Byzantiner, Hunnen, Venezianer, Osmanen und noch etliche mehr, ehe es von Zarin Katharina II. dem russischen Kaiserreich einverleibt wurde. Ukrainisch wurde die Krim erst 1954 nach Stalins Tod mit einer wechselvollen und nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 auch durchaus gewalttätigen Geschichte.

Der historischen Wahrheit im ukrainisch-russischen Konflikt zur Ehre zu verhelfen, hätte inmitten der gleichgeschalteten europäischen Presse allerdings nicht nur zu Diffamierung geführt. Längst ersetzt die Medienzensur die Zensur der Medien durch staatliche Gewaltapparate, manipuliert die öffentliche Meinung durch ein subtiles System von Selbstzensur, Moral, Marktinteressen, geheimdienstlichen „Informationen“, wie am Beispiel des ORF gut nachvollziehbar, und der Bedienung von funktionalem Analphabetismus, was im Ergebnis zu einer erstaunlichen Gleichförmigkeit politischen Denkens und Handelns führt, von der die Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts unter Einsatz ihrer Gewaltmittel nicht einmal zu träumen gewagt hätten, die Erosion der Demokratie vorantreibend. 

Gerade angesichts dieser präsidentialen Erkenntnisse hätte die Analyse des Jahres 2022, amnesische Prozesse beiseitelassend, vielleicht doch etwas subtiler ausfallen können. 

Nicht verkennend, dass allzu lange Herrschaft per se autokratische Prozesse begünstigt, weshalb der russische Präsident davor auch nicht gefeit ist, sorgt das moralinsaure Lamento über die Bedrohung unserer Freiheit, Demokratie und Versorgungssicherheit vor erlauchtem Festspielpublikum doch für einige Verwunderung.

Audiatur et altera pars, meinte jener Sascha des Jahres 2015. Die Inflation, die Energiekrise, die akute Armutsgefahr in unserem wunderschönen Österreich sind schon ein wenig dem Wirtschaftskrieg der an der langen Leine der USA nasgeführten Europäischen Union geschuldet, die nicht davor zurückschreckt, vor allem der eigenen Bevölkerung den Irrwitz ihrer Politik zuzumuten.

Wobei die Frage, was zuerst war, die russische Invasion der Ukraine oder die westlichen Sanktionen, noch einer umfassenden Analyse und Antwort bedürfen, Ursachen und Anlass scharf trennend. 

Weil, wie wir wissen, die Wahrheit oft eine Tochter der Zeit ist.