
Staatsvertrag_Fuchs © Fotoservice BKA
Je nach landschaftlicher Verbundenheit pflegen diverse Länder und Menschen ihre eigenen Mythen, um sich die Welt zu erklären und manchmal auch daraus Gewinn zu ziehen, wie die Schotten mit Nessie1), dem Seeungeheuer von Loch Ness.
Der Südtiroler Bergmensch Reinhold Messner wiederum war sich sauerstoffbedingt sicher, im unwirtlichen Himalaya schon den Schneemenschen Yeti, ein mit dem tibetischen Braunbären verwandtes Wesen gesichtet zu haben, eine der Aufmerksamkeit zuträgliche und vermutlich auch einträgliche Halluzination.
Das prächtige Schloss Belvedere hingegen, das neben seiner Architektur und den weltberühmten Bildern von Klimt, Schiele, Kokoschka sowie dem französischen Impressionismus viele andere Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Moderne beherbergt, schuldet seine historische Bedeutung nicht nur seinem Stifter, dem Prinzen Eugen, sondern präsentiert als Ort der Unterzeichnung des Staatsvertrags das Staatsverständnis der Zweiten Republik und eines seiner Urheber, der gefürchteten Reblaus, der österreichischen Variante eines Ungeheuers.
Die Ambivalenz deren Existenz gründet auf dem berühmten Lied „Die Reblaus“ des legendären Volksschauspielers Hans Moser, wo es unter anderem heisst:
„I muaß im frühern Lebn eine Reblaus gwesen sein
Ja, sonst wär die Sehnsucht nicht so groß nach einem Wein
Drum tu den Wein ich auch nicht trinken sondern beißen
I hob den Rotn grod so gearn als wie den Weißn
Und schwörn könnt ich, dass ich eine Reblaus gwesn bin…“
Die Metamorphose des verhängnisvollen Pflanzenschädlings des 19. Jahrhunderts zum Volksliebling Österreichs, die sich sogar in der rot-weiss-roten Fahne vergegenständlicht und keineswegs seinen historischen Ursprung im blutverschmierten Waffenrock Herzog Leopold V. nach der Belagerung von Akkon 1191 hat, ist wiederum jener Legende geschuldet, wonach es nach der Stände- und Nazidiktatur mit Hilfe der Reblaus gelungen ist, die alliierte Besatzung loszuwerden.
Nach den nüchternen Jahren der Entnazifizierung soll bei den Staatsvertragsverhandlungen in Moskau nach einem kräftigen Kampf- und Wetttrinken der österreichische Aussenminister Figl seinem Zither spielenden Kanzler Raab ins Ohr geflüstert haben, „Jetzt noch d´Reblaus“, worauf die zu Tränen gerührten Sowjets der Neutralität Österreichs nach Schweizer Vorbild als Voraussetzung für den Staatsvertrag zugestimmt haben, sodass Aussenminister Figl am 15. Mai 1955 vom Balkon des Belvedere sagen konnte: „Österreich ist frei.“ Und das noch dazu ohne Nennung der Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg in der Präambel!
Da hatten es unsere deutschen Nachbarn, die 35 Jahre länger auf ihren Einigungsvertrag warten mussten, etwas schwerer, die derzeit noch immer 35.000 amerikanische GIs alimentieren müssen, mehr als doppelt so viele wie das österreichische Bundesheer. Und die dennoch nicht verhindern konnten oder wollten, dass der Biden Joe den Deutschen und auch uns Ösis unsere North-Stream-Pipelines in die Luft geblasen hat. Und damit die preiswerte Energiezufuhr. Von den Milliarden-Abschreibungen ganz zu schweigen!
Schon bald nach dem Ende des Kalten Krieges und dem EU-Beitritt Österreichs kamen allerdings erste Zweifel am Sinn der Neutralität auf. Daher war abzusehen, dass die Begründung eines neuen österreichischen Nationalbewusstseins mittels Tags der Fahne und Fitmärschen zum Gedenken an das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs nach dem ruhmlosen Ende des Tausendjährigen Reichs nur schwer gelingen würde. Zu gross die Faszination der Österreich umgebenden NATO-Länder, als dass sich ein kleines Neun-Millionen-Volk dagegen wehren könnte. Gegen Drohnen von allen Seiten!
Auch die für das österreichische Selbstbewusstsein nicht zu unterschätzende Charmeoffensive der Aussenministerinnen in schmucker Dirndl-Tracht konnte bisher keinen diplomatischen Erfolg zeitigen. Zur Zeit der Nazis noch ein völkisches Kleidungsstück, das zu tragen Jüdinnen verboten war, erlebt das Dirndl ja gegenwärtig eine stylische Neuinterpretation mit einer ungeahnten Vielfalt von identitätspolitischen Aneignungen. Aber weder das elegante der Putin-Versteherin noch das rustikale der Selenskyi- und Terror-Versteherin konnten das grundsätzliche austriakische Problem lösen. Die Neutralität ist eben auch nur eine Tochter der Zeit.
Entscheidend ist vielmehr, dass die Neutralität die Richtigen trifft, oder wie die gegenwärtige Aussenministerin in zahlreichen Gesprächen mit der israelischen Regierung sagte: „Österreichs Haltung steht unverrückbar auf der Seite des Völkerrechts.“ (X, 03.10.2025) Da haben selbst die im monochromen Proporz mit sich selbst gefangenen Beamt*innen des Aussenamtes betreten zur Seite geblickt. Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien… Die Gesinnungsneutralität der Gesinnungslosen?
Wir Österreicher halten es eben eher mit der Völkerrechts-Interpretation des grossen Rechtsphilosophen Feldmarschall Hermann Göring:
„Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Rußland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. […] [D]as Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“2)
„Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im Frieden.“ Bundeskanzler Friedrich Merz (Stern.de, 2025-09-30)
Eben. Es wird schon noch werden…
1) https://www.walterposch.at/blog/nessie/
2) https://de.wikiquote.org/wiki/Hermann_Göring Interview in seiner Nürnberger Gefängniszelle mit dem Psychologen Gustave Mark Gilbert, 18. April 1946, in Gustave Mark Gilbert: Nürnberger Tagebuch, Aus dem Amerikanischen übertragen von Margaret Carroux, Karin Krauskopf und Lis Leonard, Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1962