Das europäische Projekt oder Über das Böse

© Wikimedia Commons

Die „Achse des Bösen“ hatte es noch George Bush 2002 genannt, die Erschütterung „vom wiederauflebenden brutalen Antlitz des Bösen“ Ursula von der Leyen 2022. Hannah Arendt hatte in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ 1963 von der „Banalität des Bösen“ gesprochen. 

Klar ist, alle drei meinten etwas Verschiedenes.

Die Idee von einem gemeinsamen Europa ist das Resultat der Bemühungen von Menschen unterschiedlicher nationaler und weltanschaulicher Provenienz, das Trauma zweier Weltkriege zu überwinden und eine Zone politischer und ökonomischer Stabilität in Europa zu schaffen. 

2022 liest sich das in der fast einstündigen Rede der Präsidentin zur Lage der Union, die die Redaktion „Schräger Vogel“ der Bedeutung wegen in den wesentlichen Aussagen gekürzt wiedergibt, etwas anders:

  • „Erschüttert vom wiederauflebenden brutalen Antlitz des Bösen…“
  • „Wir müssen uns in ganz Europa von dieser Abhängigkeit befreien…“
  • „Dadurch sind die Gaspreise im Vergleich zu vor der Pandemie um mehr als das Zehnfache gestiegen…“
  • „In Zeiten wie diesen müssen Gewinne geteilt und an die Bedürftigsten umgeleitet werden…“
  • „Wir müssen auch weiterhin darauf hinarbeiten, die Gaspreise zu senken…“
  • „Wir müssen unsere Versorgungssicherheit gewährleisten und zugleich unsere globale Wettbewerbsfähigkeit…“
  • „Doch während wir diese unmittelbare Krise zu bewältigen versuchen, müssen wir unseren Blick nach vorne richten…“
  • „Wir müssen deshalb den Strom- vom dominanten Gaspreis entkoppeln…“
  • „Wir müssen beim Wasserstoff vom Nischenmarkt zum Massenmarkt kommen…“
  • „Hierzu müssen wir einen Marktmittler für Wasserstoff schaffen, der die Investitionslücke schliesst…“
  • „Wir müssen uns an dieses Klima besser anpassen und die Natur zu unserem wichtigsten Verbündeten machen…“
  • „Kurzfristig müssen wir allerdings auch besser für die Bewältigung des Klimawandels gerüstet sein…“
  • „Die Zukunft unserer Kinder liegt in unseren Händen – wir müssen nicht nur in Nachhaltigkeit investieren, sondern auch nachhaltig investieren…“
  • „Wir müssen den Übergang zu einer digitalen und klimaneutralen Wirtschaft fördern…“
  • „Und wir müssen aber auch eine neue Realität der höheren Staatsverschuldung anerkennen…“
  • „Wir müssen den Raum für strategische Investitionen öffnen und den Finanzmärkten das Vertrauen geben, das sie benötigen…“
  • „Wir müssen die Hindernisse beseitigen, die unseren kleineren und mittleren Unternehmen nach wir vor das Leben schwer machen…“
  • „Wir müssen daher viel stärker in die Aus- und Weiterbildung investieren…“
  • „Und wir müssen diesen Bedarf besser in Einklang bringen mit den Zielen und Wünschen, die Arbeitssuchende selbst für ihren Berufsweg haben…“
  • „Wir müssen vermeiden, erneut in Abhängigkeit zu geraten wie bei Öl und Gas…“
  • „Wir müssen vor allem unsere Beziehungen zu diesen Partnern und zu wichtigen Wachstumsregionen erneuern…“
  • „An diesem Erfolg müssen wir nun anknüpfen…“
  • „Wir müssen dafür sorgen, dass die Zukunft der Industrie in Europa liegt…“
  • „Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir die Beziehungen untereinander vertiefen…“
  • „Wir müssen ihnen bei jedem Schritt auf diesem Weg zur Seite stehen…“
  • „Wir müssen uns besser vor böswilliger Einmischung schützen…“
  • „Wir müssen sie sowohl vor äußeren Bedrohungen schützen, als auch vor den Gefahren, die im Inneren lauern…“
  • „Und nachdem Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern zugehört hat, müssen wir jetzt Ergebnisse liefern…“
  • „Wir müssen den neuen Herausforderungen gerecht werden, mit denen uns die Geschichte immer wieder konfrontiert…“
  • „Und wir müssen auch die Art und Weise, wie wir handeln und entscheiden, verbessern…“
  • „Und da wir ernsthaft eine Erweiterung der Union ins Auge fassen, müssen wir uns auch ernsthaft um Reformen bemühen…“
  • „Meine Damen und Herren Abgeordnete, es heisst, dass Licht im Dunkeln am hellsten erscheint…“
  • Akklamation der Abgeordneten

Nun ist die 29fache Verwendung des Modalverbs „müssen“ eine nicht uninteressante rhetorische Figur, deren Notwendigkeit in ihrer Kompaktheit der inhaltlichen Banalität geschuldet sein mag, mit der die Lichtgestalt den Weg im Dunkeln zu weisen versucht. 

Der sprachlichen Niedertracht nicht gewärtig, schändet die eloquente Deutsche aber nicht nur das Ansehen Goethes, sondern bemächtigt sich auch seines blau-gelben Farbcodes, mit dem der Dichterfürst seinen Helden Werther lieben und sterben lässt, und erscheint farblich so abgestimmt am Rednerpult mit ihrem berühmt-berüchtigten Statement zur Lage der Union „Gewand statt Verstand“. 

Mit ihrem 30. Imperativ ist die Strategin allerdings gescheitert. Der Vorgabe, dass auch alle Kommissare, Staatsoberhäupter und Ministerpräsidenten zukünftig solidarisch in der Werther-Tracht mit blauem Frack, gelber Kniehose und Weste bei öffentlichen Anlässen erscheinen müssen, wie im Porträt Alexander van der Bellens leicht verändert dargestellt, haben ihre männlichen Kollegen eine Abfuhr erteilt. Für den Ausgang des Krieges sei die Kleidung irrelevant, der graue Anzug viel bequemer. Allenfalls könne man sich eine blaue Tunika mit gelben Sternen und Sandalen vorstellen, so die Antwort der Erlauchten.

Wegen der Zukunft dieser Europäischen Union muss man sich keine Sorgen mehr machen. Einfach banal und böse.