Das Schloss

1 Der König

Zwei relevante Gegensätze prägen den preussisch-österreichischen Dualismus oder besser jenen zwischen den Hohenzollern und den Habsburgern, der schon ältere, sprachliche Gegensatz der Zweiten Lautverschiebung, weshalb sich die niederdeutschen Landsleute so schwer tun mit dem Schtolpern über schpitze Schteine, die ihnen die hochdeutschen Schprachverwandten gelegentlich in den Weg gelegt haben, und dem jüngeren, politischen Gegensatz zwischen dem kulturaffinen, homoerotischen „Alten Fritz“ und der gebärfreudigen Maria Theresia und deren 16 Kindern, wobei beide Lebensmodelle kriegerische Drangsale keineswegs ausschlossen.

Jener „Alte Fritz“ genannte Friedrich II. oder Friedrich der Grosse, König von Preussen, 1712 geboren im Stadtschloss zu Berlin, stand nämlich nicht nur in einer mehr als vier Jahrzehnte dauernden, nicht immer ungetrübten Freundschaft zum französischen Philosophen Voltaire, dessen Inspiration er sein Verständnis über die Ideale der Aufklärung verdankte, was nach seinem Regierungsantritt 1740 zur Abschaffung der Folter, der partiellen Aufhebung der Zensur und Offenheit gegenüber Einwanderern und religiösen Minderheiten wie den Hugenotten führte, sondern alsbald auch zu einer regen kriegerischen Tätigkeit, hierin dem Vorbild seines Vaters folgend, dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I.

Die Konflikte in der Kindheit mit dem mehr dem Militärischen zugewandten Vater, der kein Verständnis für die Vorlieben des jungen Fritz hatte, nämlich für Philosophie, Literatur, Musik, Komposition, Kunst und der Freimaurerei, und jenes „Divertimento“ mit Prügeln, Tritten, Haft und seelischen Grausamkeiten zu unterbinden versuchte, endeten schliesslich auch in einer arrangierten Zwangsehe mit einer Nichte Maria Theresias, die kinderlos bleiben sollte, sodass es verständlich erscheint, dass sich der „Alte Fritz“ nach seiner Thronbesteigung räumlich von seiner Frau trennte und lieber im von ihm in Auftrag gegebenen und in bloss zwei Jahren errichteten Schloss Sanssouci, jenem zauberhaften Rokoko-Sommerschloss mit Wein-Terrassen in Potsdam seinen privaten Interessen nachging, auch fernab vom Stadtschloss in Berlin, wo im Wesentlichen die Verwaltung der preussischen Merkantil-, Fiskal- und Militäradministration residierte. 

Die kindlichen Deformierungen durch die Brutalitäten Friedrich Wilhelms hatten aber nicht nur private Folgen für seine Gemahlin Elisabeth Christine, der es verwehrt blieb, zumindest im Tod mit ihrem Mann vereint zu sein, nachdem der Alte Fritz testamentarisch verfügt hatte, in der Gruft auf der Terrasse von Sanssouci gemeinsam mit seinen Hunden begraben werden zu wollen, auf dessen Grabplatte immer wieder mal Kartoffeln niedergelegt werden als Dankbarkeit für seinen lebenspraktischen Beitrag zur Verbreitung der Kartoffel in Preussen. 

Sie hatten auch historische Konsequenzen, insofern die den Preussen zugeschriebenen Tugenden wie Tapferkeit, Bescheidenheit, Gehorsam, Gründlichkeit, Ordnungssinn, Pünktlichkeit zumindest bis zu den chaotischen Zuständen der Deutschen Bahn, die den König sehr verstört hätten, doch auch ein gerüttelt Mass an Untertänigkeit und martialischer Gewalttätigkeit zeitigten weit über die Zeit der Hohenzollern hinaus, bis in den privaten Bereich hinein, als jüngst ein bekannter deutscher Entertainer bekannte, seinen Kindern schon mal Backpfeifen ausgeteilt zu haben, wobei er mit Sicherheit feststellen konnte, dass die ihm selbst in seiner Jugend verabreichten „Watschen“ keineswegs geschadet hätten.

Ausgestattet mit Skrupellosigkeit und militärischer Disziplin begann der „Alte Fritz“ also schon sechs Monate nach seiner Inthronisation mit seinen Kriegen gegen Habsburg, nachdem der römisch-deutsche Kaiser Karl VI. ohne männlichen Erben gestorben war, entriss der jungen Maria Theresia in drei Kriegen Schlesien und etablierte Preussen als fünfte Grossmacht Europas neben Frankreich, England, Österreich und Russland. 

Österreich entschädigte sich für den Gebietsverlust dafür gemeinsam mit Preussen und Russland durch drei Teilungen Polens, das ab 1795 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als souveräner Staat von der Landkarte Europas verschwand. Versuche Österreichs, sich im bayrischen Erbfolgekrieg 1779 grosse Teile Bayerns einzuverleiben, scheiterten wiederum an Preussen, womit der Weg Österreichs um die Vorherrschaft in deutschen Landen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg zu seinen Ungunsten vorgezeichnet war, ehe dieser beiden Dynastien, Habsburgern wie Hohenzollern, ein ruhmloses Ende setzte. Vom Glanz der Kaiser von Österreich und jener des Deutschen Reiches blieben bloss ein Zwergstaat, „den keiner wollte“, die Erste Republik, und die Weimarer Republik als Nachfolgerin des Deutschen Kaiserreichs, ehe das glorreiche Tausendjährige Reich, das nur zwölf Jahre dauern sollte, beiden Republiken und schliesslich sich selbst den Garaus machte.

2 Das Stadtschloss von Berlin

Errichtet zwischen 1443 und 1451 als Residenz des Kurfürsten Friedrich II. „Eisenzahn“, der Cölln und Berlin als politisches Zentrum der Mark Brandenburg für seinen Hof auserwählt hatte, zeigte das erste Schloss noch Zeichen einer Zitadelle, bevor es im 16. Jahrhundert geschliffen und ein Renaissance-Schloss errichtet wurde, das mit dem Berliner Dom baulich verbunden und schliesslich unter König Friedrich I. von Preussen als Königsresidenz vom Schlossbaumeister Andreas Schlüter im Stil des Barock ausgebaut wurde. Nach einigen Erweiterungen und Umbauten erhielt der Bau im 19. Jahrhundert über dem Westportal eine 70 m hohe Kuppel, die von einer Laterne gekrönt wurde und diente fortan den deutschen Kaisern ab 1871 als Residenz. Nach der Abdankung des Kaisers Wilhelm II. am Ende des Ersten Weltkriegs im Zuge der Novemberrevolution von 1918 und Ausrufung der Weimarer Republik wurde das Schloss auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten weitgehend kulturell und wissenschaftlich genutzt, ehe es bei einem Luftangriff der Alliierten im Februar 1945 schwer beschädigt wurde und fast vollständig ausbrannte.

3 Der Palast der Republik

Am Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand nach 500 Jahren Herrschaft der Hohenzollern als Kurfürsten von Brandenburg und nachmaligen Königen von Preussen, dem Interregnum der Weimarer Republik und dem 12-jährigen Intermezzo der Nationalsozialisten, das nicht nur das Schloss, sondern auch das Land in Trümmern zurückliess, die Besetzung Deutschlands auf der Agenda der Alliierten, die schliesslich zur Teilung des Landes in einen westlichen, im Wesentlichen unter der Kuratel der Vereinigten Staaten stehenden Teil, der sich Bundesrepublik nannte, und einen östlichen, Deutsche Demokratische Republik DDR, die sich als antifaschistisches Bollwerk unter brüderlicher Aufsicht der Sowjetunion verstand, obwohl der Gesinnungswandel der westlichen und östlichen Nazis nicht so eindeutig dokumentiert ist, jedenfalls aber behauptet wurde.

Die Frage, was mit den Resten des zerstörten Schlosses in der Mitte Berlins passieren sollte, beantworteten die neuen Machthaber der DDR 1950 mit dessen Sprengung, um einen riesigen Fest- und Aufmarschplatz zu errichten, auch als symbolisches Zeichen der Überwindung der autokratischen und militaristischen Herrschaft Preussens, wohingegen die übrigen historischen Bauten weitgehend wieder aufgebaut wurden.

Fortan bestand ein leerer Schlossplatz mitten im Zentrum von Berlin am Ende der Prachtstrasse Unter den Linden zwischen Berliner Dom, Altem Museum und Zeughaus, bevor 20 Jahre nach der Sprengung des Schlosses mit dem Bau des Palasts der Republik begonnen wurde, der 1976 eröffnet und fortan einerseits als Sitz der Volkskammer, anderseits als multifunktionales Veranstaltungszentrum mit einem bis zu 4500 Plätzen fassenden Saal, einem Grossen Foyer, zahlreichen gastronomischen Einrichtungen, einem Theater, einer Galerie etc. ähnlich der Kulturmaschine des Centre Pompidou in Paris diente und in nur 14 Jahren 70 Millionen Besucher*innen verzeichnete. 

Kurz nach der 40-Jahr-Feier der DDR am 7. Oktober 1989 fiel die Berliner Mauer, konstituierte sich die erste frei gewählte Volkskammer, die am 23. August 1990 den Beitritt zum Geltungsbereich der Bundesrepublik beschloss, womit auch die Geschichte des Palasts der Republik sein Ende fand, der wegen seiner hohen Asbestbelastung noch im gleichen Jahr geschlossen und zwischen 2006 und 2008 wohl auch aus symbolischen Gründen wie dereinst das Berliner Schloss abgerissen und damit aus dem Gedächtnis des wieder vereinigten Deutschland gelöscht wurde.

4 Das Humboldtforum

An seine Stelle trat das Humboldtforum, benannt nach den Brüdern Wilhelm, dem Philosophen und Sprachforscher, und Alexander, dem Naturforscher und Weltreisenden.

Als Chiffre nationalen Selbstverständnisses beschloss der Deutsche Bundestag 2002 den Wiederaufbau des Berliner Schlosses und schrieb einen internationalen Architektenwettbewerb aus, in dem sich Franco Stella aus Vicenza mit seinem Vorschlag einer monolithischen Stahlbetonkonstruktion mit vorgeblendeten, selbsttragenden barocken Fassaden durchsetzen konnte, was eine lange Diskussion in den Medien wegen der Schlossfassaden als Attrappe und Ausdruck des Ewiggestrigen zur Folge hatte. Bloss an der Ostseite, dem Belvedere, strahlt eine nüchterne moderne Komposition mit Sichtbetonfertigteilen aus Weisszement im Stil einer Loggia mit grossen und tiefen Fensteröffnungen.

Der gemäss den Vorgaben des Bundestags im Wesentlichen zwischen 2013 und 2020 errichtete Bau findet seinen Abschluss in einer mächtigen, mit Kupfer und Blattgold gedeckten Kuppel über dem Westportal samt einem umlaufenden Bibelspruch auf der Kuppelbasis und einem Kreuz auf der Laterne der Kuppel, an dem sich neben der Frage, ob die Replik einer einstigen Herrscherresidenz überhaupt ein Symbol für ein demokratisches Deutschland sein könne, wie es der Historiker Yves Müller formuliert hatte, heftige Diskussionen über ein christliches Symbol auf einem Profanbau entzündeten. Die Diskussion mag aber auch der Sehnsucht geschuldet sein, dass Berlin im Sumpf der Krummen Laake des Berliner Urstromtales gebaut wurde und nicht wie sein habsburgischer Konkurrent über zahlreiche Gipfelkreuze auf den Alpen gebietet.

Wie dem auch sei, das neue Kunst- und Kulturzentrum Humboldtforum beherbergt neben zahlreichen öffentlichen Nutzungen im Erdgeschoss und den Ausstellungs- und Veranstaltungssälen der Berlin-Ausstellung, der Humboldt Universität und der Akademie im ersten Obergeschoss auch die Raritäten der Sammlungen der staatlichen Museen/Stiftung preussischer Kulturbesitz mit dem ethnologischen Museum und dem Museum für asiatische Kunst im zweiten und dritten Obergeschoss.

Die Möglichkeiten des Humboldtforums sind vielfältig, ob es je die Besucherzahlen des Palasts der Republik oder des Centre Pompidou erreichen wird, kann bezweifelt werden. Aber jedenfalls hat es seine Berechtigung als Ort der Provenienzforschung, der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit insbesondere in Westafrika, als Ort für das Denken in globalen Massstäben, wie es Forschung und Ausstellungen intendieren. 

Als Symbol für ein neues Deutschland eignet es nur bedingt, insofern die riesige barocke Baukubatur mit dem Einsprengsel der modernen Ostfassade, das christliche Kreuz auf deren Spitze, die kolonialen Artefakte und Sammlungen eher die politische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte repräsentieren. Einen gemeinsamen Aufbruch, der sich in einer völlig neuen Architektur manifestiert hätte, hat man nicht gewagt. Und so sind die Erinnerungen an den Palast der Republik und die Gläserne Blume, die einst dessen Foyer schmückte und bis heute in einem Depot eingelagert ist, eine sentimentale Chiffre für die ostdeutsche Identität geworden.

5 Die Wiedervereinigung

„Preussens Gloria ist wieder da“, titelte die liberale Stuttgarter Zeitung am 15.12.2020 vor der Eröffnung des Berliner Schlosses, womit der Streit um das Schloss beigelegt wäre, „wenn die Architektur nur nicht so ambivalent daher kommen würde“, meint das süddeutsche Blatt, den eingeschriebenen politischen Gegensatz intuitiv erfassend. 

Geblendet von den einnehmenden Fassaden des Schlosses zeigt sich dem nüchternen Blick am Tag der Deutschen Einheit die Realität statistisch in einer etwas anderen Perspektive. (Zitiert nach statista.com)

So verdienen ostdeutsche Arbeitnehmer*innen im Schnitt noch immer über alle Qualifikationsniveaus hinweg bis zu 19% weniger als deren westdeutschen Kolleg*innen, wobei sich die Gehälter in den vergangenen Jahrzehnten kaum angenähert haben. Auch sind Führungskräfte in Bundesbehörden und Gerichten mehrheitlich (80-90%) in Westdeutschland geboren, was mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Hauptsitz dieser Behörden grösstenteils dort liegt.

Die deutsche Teilung hatte zudem erheblichen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung, die in der DDR wegen Abwanderung durchgehend negativ war. Erst nach 2017 sind die Wanderungssalden zwischen Ost- und Westdeutschland ausgeglichen. Sowohl bei der Altersstruktur als auch der Wirtschaftsleistung befinden sich die ostdeutschen Bundesländer allerdings auf den hinteren Rängen und sind deshalb in besonderem Mass auf Zuwanderung angewiesen, die aber von 41% der Deutschen als problemhaft abgelehnt wird, wobei in den neuen Bundesländern der Ausländeranteil mit Abstand am geringsten ist, somit diametral den Umfrageergebnissen entgegensteht. Die letzten Zugewinne der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen könnten jedoch dafür sorgen, dass Neuansiedlungen von Unternehmen auch aus Imagegründen gebremst werden und Migrant*innen diese Länder aus Sorge vor Ausgrenzung und Verfolgung meiden. 

Die schwierige Situation in der deutschen Industrie, vor allem im Automobilbau, Maschinenbau und der Chemie, die sich unter dem Druck der EU-Kommission mit deren „Strafzöllen“ von bis zu 35%, ähnlich jener der vormaligen Trump-Administration, plagen muss und deren Handelskrieg mit beträchtlichen Umsatzeinbussen bezahlt, wird die politische Situation zunehmend verschärfen, in Ost und West. 

Einzig die Rüstungsindustrie wie die deutsche Rheinmetall darf sich über volle Auftragsbücher und eine imposante Steigerung des Aktienkurses seit Beginn des Ukraine-Kriegs von 96,70 EUR zum 18. Februar 2022 auf 490,60 EUR zum 30. Oktober 2024 freuen. Nach der Empfehlung der EU-Kommission, Atomstrom und Erdgas als „grün“ zu bezeichnen, fehlt bloss noch die Aufnahme der Rüstungsgüter in die ESG-Fonds (Environmental Social Governance), um die Aktien der „Verteidigungs“-industrie weiterhin „nachhaltig“ steigen zu lassen. Das dafür notwendige Lobbying, um die Regeln der EU-Taxonomieverordnung zu ändern, ist im Gang.

Der profitable Paradigmenwechsel ist klarerweise den geänderten politischen Bedingungen der letzten zwanzig Jahre in Europa geschuldet. Hatte der russische Präsident Wladimir Putin für seine Rede vor dem Bundestag 2001 zum deutsch-russischen Verhältnis noch anhaltenden stehenden Applaus geerntet, sieht die Sache bloss 20 Jahre später völlig gegensätzlich aus, nämlich wie vom Fraktionschef und Kanzlerkandidaten der CDU Friedrich Merz ultimativ im Bundestag skizziert: „Wenn dieser (Anm. Putin) nicht innerhalb von 24 Stunden aufhöre, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus-Marschflugkörper geliefert werden.“ (Süddeutsche Zeitung, 18.10.2024)

Wenig überraschend wird die deutsche Ukraine-Politik im finanzschwächeren Osten allerdings wesentlich kritischer gesehen, 47% finden die Unterstützung der Ukraine mit Waffen, 52% die finanzielle Unterstützung als zu weit gehend, des schwärenden Unheils bewusst, welches nicht nur die Zerstörung der Ukraine, Hunderttausende Tote und Verwundete, psychische Traumata, sondern auch die Verarmung der eigenen Bevölkerung bedeutet. 

Er konstatiere eine hektische Stimmung, die fast schon Erinnerungen an die kriegsschwangere Traumtänzerei von 1914 aufkommen lasse, meinte jüngst der deutsche Philosoph Jürgen Habermas. (NZZ, 13.09.2024)

Preussens Gloria ist wieder da und auch alle seine Charaktermasken, blickt das Schloss nachdenklich in seinen Spiegel in der Spree. 75 Jahre Frieden sind genug!