Der Kandidat

„Österreich zuerst“ nannte sich das Ausländer-Volksbegehren der FPÖ von 1993 zwecks Reinigung des Volkskörpers von illegalen Ausländern und den Missbrauch von Sozialleistungen mittels allerlei xenophober Rezepturen, was ein Lichtermeer von Hundertausenden evozierte, die die simple Weltsicht nicht teilen mochten, darunter auch viele Sozialdemokrat*innen.

„America first“ tönte ein US-Präsident anlässlich seiner Amtseinführung 2017, auf Paradigmen amerikanischen Nationalismus zurückgreifend, die zuvor schon von US-Sympathisanten des Nationalsozialismus wie Randolph Hearst oder dem rassistischen Ku Klux Klan geteilt wurden, im übrigen mit protektionistischer Politik und „Strafzöllen“ gegen unfairen Wettbewerb Chinas einhergehend, worauf sich dieses umgehend mit dem chinesischen Virus revanchierte. 

„‚Europe first‘ statt ‚Made in China‘” (ORF.at, 05.05.2024), grummelte der vom Kosmopoliten zum Mitläufer mutierte SPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahl im ORF und bediente sich ansonsten durchwegs moralischer Kategorien wie „Schande“, „schäbig“, oder „Sündenfall“, um seine politischen Kontrahenten zu desavouieren und den eigenen Sündenfall notdürftig zu kaschieren. 

Niemand wehrt sich vernünftigerweise gegen Investitionen „wie schon nach der Coronavirus-Krise“ (ebda), wobei bis heute niemand weiss, worin deren Nachhaltigkeit genau besteht und wo man sie besichtigen kann, gegen den Ausbau der Infrastruktur, die Vernetzung europäischer Hauptstädte mittels schneller Bahnverbindungen, die Produktion europäischer E-Autos usw. Nur wenige Einwände gäbe es auch gegen Geschäfte mit Russland, wenn nicht der amerikanische Hegemon seinen europäischen Domestiken zeigen würde, dass sich solche Deals sanktionsmässig nicht lohnen.

Aber warum es zu einer vernünftigen Re-Industrialisierung Europas unbedingt der Dämonisierung Chinas bedarf statt eigener Anstrengungen, weiss nur jemand, der die manichäistische Weltsicht Europas bereits so verinnerlicht hat, dass wirtschaftliches Handeln in der Auseinandersetzung mit einem Dämon nur in gewalttätiger Form möglich erscheint, sodass die lichtgestaltigen europäischen Beitragstäter*innen in Kommission, Parlament und Nationalstaaten heller scheinen mögen und Waffenlieferungen zu einem notwendigen humanitären Akt der Nächstenliebe geraten.

Da fällt es dann gar nicht mehr auf, dass Deutschland zum Gedenken an das Kriegsende sowjetische Fahnen auf Denkmälern anlässlich seiner Befreiung von der Nazi-Diktatur geschichtsklitternd nicht mehr erlaubt. (TAZ, 06.05.2024)

Aber so ganz will das ohnehin niemand glauben, dass es eine Befreiung war, bewusst(seins)los, geschichtslos.