Europa © Wikimedia Commons
Die Wurzel mancher Konflikte liegt bereits dem Gründungsmythos von sozialen Prozessen zugrunde, weshalb als gesichert gilt, dass des Kontinents Entwicklung ohne die Affäre des liebestollen Zeus mit Europa, der schönen Tochter des phönizischen Königs Agenor, seiner wesentlichen Elemente beraubt wäre.
Kaum war er der unschuldigen Schönheit ansichtig geworden, war es um den obersten der Götter geschehen. Den Zorn seiner rasend eifersüchtigen Frau Hera fürchtend, versicherte er sich sogleich der Unterstützung und List seines verschlagenen Kupplers Hermes und verwandelte sich in einen weissen Stier, um unerkannt die Prinzessin schwimmend durch die Fluten des Mittelmeeres in seine alte Heimat Kreta zu tragen, wo er seine Maske fallen liess und sich höchstgöttlich der jungen Dame als ein der Liebesgewalt Unterlegener erklärte.
Dem mochte diese auf Dauer nicht zu widerstehen und fand alsbald Gefallen an seinen Liebkosungen, quasi das erste Opfer des Stockholm-Syndroms. Die Beziehung blieb nicht folgenlos und führte nicht nur zur Begründung der nach ihrem Sohn benannten minoischen Kultur, sondern gab dem Kontinent seinen Namen mit allen Ingredienzien göttlicher Macht, der Schönheit, Weisheit und Liebe, aber auch dem Hass, dem Neid, der Gier, der Eifersucht, der Eitelkeit, dem Machtmissbrauch und brutaler kriegerischer Gewalt.
So erfuhr der Kontinent in den folgenden Jahrhunderten nicht nur eine erstaunliche kulturelle Entwicklung, sondern auch alle möglichen Varianten menschlicher Niedertracht. Während die Nachkommen Europas zu den Sternen griffen und unglaubliche Leistungen auf den Gebieten von Forschung, Wissenschaft und Technik vollbrachten, blieben sie im politischen und sozioökonomischen Bereich bis ins 20. Jahrhundert eher ihrer primatenhaften Existenz verbunden.
H. G. Wells „The War That Will End War“, ein Ende des deutschen Militarismus durch den Ersten Weltkrieg erwartend, erlebte derart im Zweiten seine obszöne Fortsetzung und erst recht seinen barbarischen Höhepunkt mittels millionenfacher Menschenschlächterei und der industriellen Ermordung der europäischen Juden.
Der allgegenwärtigen Zerstörung, des Verlusts von geliebten Menschen, des Hungers und der Scham angesichts der widerlichen Untaten gewärtig, gelobte das Nachkriegseuropa Besserung, damit dieser Krieg der letzte in Europa gewesen sei und setzte an die Stelle von brachialer Gewalt friedliche Aushandlungsprozesse.
Der Geist von Europa, wie er sich in den Römischen Verträgen 1958 manifestierte, setzte auf wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit, den Abbau von Grenzen, die Vertiefung der staatlichen Beziehungen, die Verbesserung der Lebensverhältnisse, Freizügigkeit, demokratische Stabiliät, permanenten Interessensausgleich und vergemeinschaftetes Recht. Mit der Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen, der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Rechtsstaatlichkeit und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zeigte er der hässlichen Fratze des Nationalismus sein schönes Gesicht.
Verblichen ist inzwischen im 21. Jahrhundert der politischen Nomenklatura Erinnerung an die monströsen Kriege. Des langen Friedens überdrüssig braucht es ein neues Heldenepos, vorzugsweise in Blut getränkt. Dafür wiederum ist eine wertebasierte Völkerrechtskonformität unabdingbar, um den Geist von Europa medial mittels eines einfachen Freund-Feind-Schemas in ein neues Zeitalter zu transformieren.
Dann wird schnell klar, dass die eigenen Verstösse der Wertegemeinschaft gegen das Völkerrecht wie die mit Lügen legitimierte Invasion der USA, des Vereinigten Königreichs, Australiens und Polens in den Irak 2003, der Krieg der NATO unter Führung Frankreichs gegen Libyen 2011 oder der Überfall der NATO mit deutscher Beteiligung ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats auf Jugoslawien 1999 jener euphemistisch als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Invasion gleichen, mit der Russland seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt, aber einer unterschiedlichen Sanktionierung unterliegen.
Keiner der Aggressoren, weder der US-Präsident George W. Bush, noch der britische Premier Tony Blair, der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und dessen Vizekanzler und Aussenminister Joschka Fischer müssen den Internationalen Strafgerichtshof fürchten und auch der russische Präsident Wladimir Putin nicht, obwohl sich die gegenwärtige deutsche Aussenministerin eifrig bemüht, den Letztgenannten zur Verantwortung zu ziehen.
Den Strafen der irdischen Gerichtsbarkeit mussten sich bisher bloss afrikanische Despoten unterwerfen, soweit sie nicht als Rohstofflieferanten nützlich waren, oder die abgehalfterten Kriegsverbrecher des ehemaligen Jugoslawien.
Nun wären für die Sanktionierung von Verstössen gegen das Völkerrecht im Prinzip ja ohnehin eher die Vereinten Nationen zuständig und nicht die Europäische Union oder das irrelevante österreichische Aussenministerium, aber mangels Durchsetzbarkeit von militärischen oder wirtschaftlichen Massnahmen wegen des Vetos der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates greifen grosse Staaten oder Staatenverbände wie die NATO oder die Europäische Union lieber zur Selbsthilfe und disziplinieren in ihrer heuchlerisch der Freiheit verpflichteten gleichzeitigen Rolle als Ankläger und Richter die Übeltäter mit Verweis auf deren völkerrechtswidriges Vorgehen mittels einer breiten Palette wirtschaftlicher Repressalien. Wer die Macht hat, hat das Recht.
Der Zustimmung der von der eigenen Propaganda völlig manipulierten europäischen Öffentlichkeit können sie dabei sicher sein, ungeachtet der schweren Selbstbeschädigung durch die Störung wirtschaftlicher Kreisläufe, der Inflation, der drastisch gestiegenen Rohstoffpreise, von denen eher die USA profitieren, während sie Europa, insbesonders Deutschland, massiv schaden, die Rückkehr von Kohle und Atomenergie inbegriffen.
Von der Eskalation des Kriegs durch ständig mehr und gefährlichere Waffen und der mittlerweile vermutlich in die Hundertausend gehenden Toten ganz zu schweigen.
Das Ende der Europäischen Union, trotz ständiger Beschwörung von Einigkeit, Zusammenhalt und Schulterschluss markiert nicht der Austritt Grossbritanniens, sondern der Ungeist der intellektuell korrumpierten europäischen Nomenklatura und ihrer nationalistischen Verbündeten.
Tot der Geist von Europa der Römischen Verträge.
Der grösste Feind der Demokratie ist die von Medien vermittelte öffentliche Meinung, grummelt Zeus zustimmend und fordert die unverzügliche Rückkehr der olympischen Götter.