Haruspex

Niemals, undenkbar, das ist ein vorübergehendes Phänomen und wird im Laufe der Zeit deutlich abflachen, meinten die Expert*innen von Zentralbank und Kommission. Aber so ganz wohl war einem dabei nicht. Zu unsicher die Lage, obwohl der Feind ganz klar identifizierbar und seine Strategie sehr durchsichtig war. Was tun?

Gemunkelt hatte man schon lange. Aber erst Monate später wurde es zur Gewissheit, was die Tierschutzorganisation „Kippen eerst“ („Hühner zuerst“) schon lange vermutet hatte, wie die Generalsekretärin der Organisation, Louise Dierenvriend, anlässlich einer Pressekonferenz im Pressezentrum des Rates der Europäischen Union in der Rue de la Loi bestätigen konnte.

Schon seit geraumer Zeit hatte die Organisation frühmorgens vor dem Berlaymont verdächtige Geräusche wahrgenommen, das Geschiebe von Containern, Gewieher, unterdrückte Kommandos, und bestialischen Gestank. Erst Nachfragen bei der befreundeten Pferde-Müllabfuhr Schaerbeek brachte „Kippen eerst“ schliesslich auf die Spur, worauf diese unverzüglich Interpol NCB Brussels einschaltete.

Die Beamt*innen von Interpol Brüssel staunten nicht schlecht, als sie die Container öffneten: den geneigten Leser*innen Details des Anblicks ersparen wollend, vor allem über fein säuberlich sezierte Tierleber! Untersuchungen von Kriminolog*innen, Patholog*innen und des gerichtsmedizinischen Amtes brachten schliesslich zutage, dass die Tiere ganz offensichtlich für eine Hepatomantie der auch schon in der Antike tätigen Haruspices gebraucht wurden. Aber im 21. Jahrhundert, im Zentrum politischer Weisheit und abgeklärter Vernunft?

Ein Whistleblower gab schliesslich den entscheidenden Tipp. Die schon bei den Römern äusserst umstrittene Eingeweideschau zwecks Deutung der prekären politischen Lage war bei der Europäischen Kommission wieder zu Ehren gekommen. Den eigenen Zahlen und Strategien nicht mehr vertrauend, hatte man einen Seher mit der Deutung der unerquicklichen Lage, in die man sich selbst begeben hatte, beauftragt.

Sorgfältig die Leber des Opfertieres betrachtend, wiegte der Haruspex seinen Kopf, entfernte mit gekonntem Schnitt die Gallenblase, betrachtete die Lage der Pfortader und der Körperhohlvene und murmelte fast unverständlich viginti tres, viginti quattuor.

„24 % Inflation schon 2023?“, fragte die aschfahl gewordene Kommissionspräsidentin ungläubig, „niemals, undenkbar!“ 

23, 24, bestätigte der Weise, neigte sanft sein Haupt, damit seine Mütze nicht auch noch herunterfiele, glättete die Tunika und ging ohne ein weiteres Wort.