Winnetou und das Völkerrecht

Winnetou©Wikimedia Commons

„Ich habe gesprochen, hugh“, pflegte Winnetou oft zu sagen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, als in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Romane von Karl May verfilmt wurden und mit Winnetou und Old Shatterhand Versöhnung zwischen Bleichgesichtern und Rothäuten möglich schien.

Aber die klassischen amerikanischen Western erzählen seit Beginn des 20. Jahrhunderts eher von der blutigen Landnahme Amerikas durch die europäischen Siedler und Durchsetzung derer Wertvorstellungen. Ein guter Krieg lebt von eindeutigen Feindbildern und einer leicht verständlichen Dichotomie von Gut und Böse, wussten die Produzenten und Regisseure, als sie mit Helden wie John Wayne das Stereotyp schlechthin schufen, Macho, christlich, weiss, heterosexuell im Kampf gegen allerlei Bösewichter, im besonderen gegen die „Indianer“, deren Widerstand im Blutbad von Wounded Knee 1890 endete. Der amerikanische Traum, ein lupenreiner millionenfacher Genozid!

Die manichäische Weltsicht eignet auch dem ehemaligen Präsidenten der USA, George W. Bush, als er nach den Anschlägen auf das World Trade Center unter Berufung auf das Recht zur Selbstverteidigung seinen War on Terror proklamierte und neben Afghanistan auch alle Staaten zu Feinden der Freiheit erklärte, die Terroristen Beihilfe leisteten. So begann in den Folgejahren eine Reihe von Freiheitskämpfen und Militäroperationen nicht nur gegen Afghanistan, sondern auch gegen Somalia, den Irak, Libyen, den Nahen Osten, Jemen und Syrien.

Seine rote Linie sei das Völkerrecht, erklärte der österreichische Aussenminister in einem Gespräch mit dem ORF (29.07.2024), im vollen Bewusstein der diesbezüglichen Indifferenzen, mit denen sich das Aussenamt seit Jahren herumschlägt, und forderte einen Kurswechsel in der Syrien-Politik der Europäischen Union. „Die EU sollte endlich eine aussen- und sicherheitspolitische Grundsatzdebatte ohne Scheuklappen über Syrien führen“, sagte Minister Schallenberg. „Die bisherige EU-Politik gegenüber Syrien sei gescheitert. Assad sitze auch nach 13 Jahren fest im Sattel“, so die weniger völkerrechtliche als machtpolitische Begründung des Kurswechsels.

Der Vorstoss, angeblich auf Initiative des Libanon, der auch von Italien und sechs weiteren EU-Ländern unterstützt wird, zollt den Realitäten in Syrien Tribut, das nach 13 Jahren Bürgerkrieg, einer halben Million Toten und fast 14 Millionen Binnenvertriebenen und Flüchtlingen bei knapp 16 Millionen Einwohnern nicht nur Opfer der eigenen ethnischen und konfessionellen Gruppen im Zuge des „Arabischen Frühlings“ geworden ist, sondern im besonderen auch Opfer der Interventionen der USA, Frankreichs, Russlands, des Iran, Irak, der Türkei, Saudi-Arabiens und der Golfstaaten.

Angesicht der grössten Flüchtlingskrise der Welt seit Ruanda, der katastrophalen humanitären Situation, der sehr wahrscheinlichen Eskalation des Nahostkriegs ist das Eingeständnis des Scheiterns der „Scheuklappenpolitik“ ein pragmatischer erster Schritt! 

Ein ähnliches Leid widerfährt aktuell der ukrainischen Bevölkerung in der grössten Flüchtlingskrise Europas seit dem 2. Weltkrieg mit sechs Millionen vorwiegend weiblichen Flüchtlingen – darunter eine Million nach Deutschland, 100.000 nach Österreich – und fünf Millionen Binnenvertriebenen bei rund 44 Millionen Einwohnern 2020. Aufgrund diverser demographischer Faktoren wie des dramatischen Schrumpfens der jüngeren Alterskohorten werden der Ukraine für 2050 bloss noch 32 Millionen Einwohner prognostiziert.1) 

Aber Putin habe es in der Hand, den Krieg zu beenden, „indem er all seine Truppen aus der Ukraine abzieht und die Angriffe einstellt“, hatte der gewiefte Völkerrechtsexperte im Aussenamt erklärt.“ (Die Presse, 17.06.2024) Nun, ganz so einfach wird es nicht sein, obwohl es in der Ukraine bereits Stimmen gibt wie jene des ehemaligen Boxers und Bürgermeisters von Kiew, der ein Referendum hinsichtlich der von Russland besetzten ostukrainischen Gebiete statt der Fortsetzung des Krieges „mit neuen Toten und Zerstörung“ anspricht, ein w.o. also, um in der Boxersprache zu bleiben.

Mittlerweile haben sich grosse private Investoren wie BlackRock auf einen Schuldenschnitt mit der Ukraine geeinigt, um einen Staatsbankrott abzuwenden durch Umwandlung alter Staatsanleihen in der Höhe von 20 Mrd. Euro, die im August fällig geworden wären, in neue, die erst 2027 bedient werden müssen, eine Abschreibung von über einem Drittel. (tagesschau.de, 17.07.2024) Auch mit den staatlichen Gläubigern der G7 wurde ein Schuldenmoratorium bis 2027 beschlossen, wobei davon auszugehen ist, dass die Ukraine auch dann die Schulden nicht wird bedienen können, nachdem sie schon jetzt in Wahrheit zahlungsunfähig ist. 

Daran ändern auch die zahlreichen „Hilfen“ der USA nichts, die grösstenteils für die europäische Infrastruktur der US-Army bestimmt sind, Personalkosten, neue Rüstungsgüter, um die alten Waffenbestände an die Ukraine liefern zu können, also im wesentlichen Hilfen, die die Ukraine nicht erreichen werden, sondern für die US-Wirtschaft und deren Modernisierung bestimmt sind. 

Zufälligerweise ist BlackRock nicht nur die weltgrösste Investmentgesellschaft mit über zehn Billionen US-Dollar an verwaltetem Vermögen, sondern auch führender Aktionär der westlichen Rüstungsindustrie und praktischerweise auch im Rohstoffsektor und in der Landwirtschaft tätig, also der ideale Partner für den Wiederaufbau der Ukraine, insbesonders wenn die Rückzahlung der Kredite durch Geld nicht möglich ist, sondern durch Verkauf von privatisiertem Staatsvermögen, Lizenzen für den Abbau von Bodenschätzen etc., womit die Ukraine bereits begonnen hat. (Weltwoche, 17.06.2024)

Klarerweise werden für den Wiederaufbau die G7 bzw. deren Steuerzahler als Bürgen für neue Schulden haften, worüber sich die grossen Finanzkonzerne der USA jetzt schon freuen. Dass da die eingefrorenen Guthaben Russlands bzw. deren Zinsen für neue Kredite hilfreich wären, um weitere „Hilfen“ für die Ukraine auf den Weg zu bringen, liegt nahe, wäre zwar völkerrechtswidrig, aber wen kümmert das, fragt Winnetou und lässt seine Blicke über die Plains der Ukraine schweifen. „Ich habe gesprochen, hugh.“

1) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/232387/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-der-ukraine/