Leidkultur

©www.lacravate.com

Nichts eignet Krisenzeiten besser als Identitätsfragen und Bedrohungsszenarien. Das wusste schon ein ehemaliger Klubobmann der ÖVP und Nationalratspräsident, der folgerichtig Bedrohungen der österreichischen Identität durch das Infragestellen der österreichischen Bundesregierung Anfang der 2000er Jahre stets mit dem Tragen einer rot-weiss-roten Krawatte beantwortete.

Auch der Spitzenkandidat einer relativ unbedeutenden Kleinpartei für die EU-Wahl 2024 wusste neulich rot-weiss-rot krawattiert in der Pressestunde des ORF nicht nur zu berichten, dass der russische Präsident einen „massiven hybriden Krieg gegen uns“ führe, sondern dass dieser, wenn er die Ukraine einnimmt, dann auch „vor den Toren Wiens“ stehe. 

Geschockt rief der Wiener Bürgermeister unverzüglich den Burghauptmann zu Konsultationen ins Rathaus, wie mit der seit Jahrhunderten tief ins Unterbewusstsein eingegrabenen Urangst vor der Dritten Belagerung Wiens militärisch umzugehen sei. Der Burghauptmann wusste zu beruhigen. Man würde keine europäische Armee brauchen, wie vom Kandidaten vorgeschlagen, weil man die Neutralität habe. Diese abzuschaffen, ergebe aber derzeit keinen Sinn, räumte sogar der Kandidat ein, weil es unsinnig sei, der Bevölkerung etwas vorzuschlagen, was diese nicht wolle. Jedenfalls braucht es aber Stacheldraht an den Grenzen, plakatiert seine Partei.

Erleichtert lehnte sich der Bürgermeister zurück, begab sich der multikulturellen Aneignung eines russischen Borschtsch und bestellte lieber türkischen Kaffee samt Kipferl, ehe er den Burghauptmann entliess: „Gegen die Russen muss uns aber der Figl helfen!“

So einfach kulturelle Unterschiede in der Praxis manchmal auch sein mögen, türmen sie sich kommunikativ nicht selten riesenhaft auf. Die Frage, ob ein Kipferl zur Leitkultur gehört, klärt sich oft, wie die Vergangenheit zeigt, erst nach Jahrhunderten. Jedenfalls gehöre zur Leidkultur aber „Integration durch Anpassung“, wie die ÖVP in ihrer sehr hochstehenden Kampagne zur österreichischen Identität schlüssig nachweist; die Werte, Bräuche und Traditionen seien es, was unsere Kultur ausmache, und publiziert Sujets von Blasmusik und Maibaum-Aufstellen. 

Nun sind Lederhosen zweifelsohne Bestandteil gelebten regionalen Brauchtums, aber nicht mehrheitlich anschlussfähig im Sinne einer leitkulturellen Synthese unterschiedlicher Lebenswelten. Aus diesem Grund sieht man Lederhosen im Alltag, abgesehen von Kirchtagen, Volksfesten etc., eher selten und schon gar nicht bei Afrikanern. Die von diesen geforderte Anpassung gerät daher trotz des Lederhosencharmes angesichts der Unmöglichkeit, die Hautfarbe chamäleonartig zu verändern, vollends zum Fiasko.

Der Krawatten Ende ist vorhersehbar, seit vor genau 100 Jahren Kölner Wäscherinnen an Weiberfastnacht sich des Phallus bemächtigten und den Herren kurzerhand die Krawatten abschnitten. „Kölle Alaaf!“

Was bleibt also von rot-weiss-roter Leidkultur? Eine Melange aus Patriotismus, Antisemitismus und Rassismus? 

Ein Schnitzel jedenfalls und ein gemischter Satz!