Den einen kennt man. Den anderen muss man nicht, sollte man aber kennen. Es zeigt den belgischen Ministerpräsidenten und nunmehrigen EU-Ratspräsidenten Charles Michel in entspannter Atmosphäre mit dem russischen Präsidenten Putin im Januar 2018, also vier Jahre nach der völkerrechtlich umstrittenen Annexion der Krim, nachdem die mehrheitlich russische Bevölkerung der Krim in einem Referendum für einen Anschluss an Russland gestimmt hatte, und vier Jahre vor der russischen Invasion in die Ukraine, als die EU-Kommission schon einige Zeit vorher ihren Wirtschaftskrieg mittels nicht sehr erfolgreicher Sanktionen vorbereitet gehabt hatte.
Bekannt geworden ist der wegen seiner Amtsführung von Kolleg*innen aus der EU vielfach Gescholtene allerdings mit der als „Sofagate“ bekannten Realsatire, als das türkische Protokoll anlässlich eines gemeinsamen Staatsbesuches den Allerwertesten der EU-Kommissionspräsidentin dem Stuhl neben dem türkischen Präsidenten Erdogan entzog, sie auf das seitlich gelegene Sofa für die politische Entourage verwies und den verdutzten, wegen seiner Corona-Maske gefühlsmässig schwer einzuschätzenden Ratspräsidenten auf den begehrten Stuhl vor der blauen Fahne mit den zwölf goldenen Sternen setzte.
Den Plan, seinen eigenen Allerwertesten zu retten und statt der Ende dieses Jahres auslaufenden Ratspräsidentschaft den bequemeren Weg einer Kandidatur für das EU-Parlament zu wählen, vereitelten indes die EU-Staats- und Regierungschefs, der Tatsache ins Auge sehend, dass ansonsten im zweiten Halbjahr den turnusmässigen Vorsitz im EU-Ministerrat ein anderer böser Bube übernommen hätte, nämlich der ungarische Ministerpräsident Orban, worauf der Bedrängte seine Kandidatur für die Europawahl zurückzog, weil er das europäische Projekt nicht „untergraben wolle“.
Kaum vom Schrecken erholt, überraschte der oberste EU-Stratege mit einer neuen Ansage. „Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten“ (Agenzia Nova, 18.03.2024), erklärte der Europa-Bewegte in Abwandlung jenes Zitats des berühmten Redners und Philosophen Cicero gegen einen Frieden mit Marcus Antonius, eines Anhängers Julius Caesars und nachmaligen Geliebten Kleopatras, „Si vis pacem para bellum“, einem im römischen Staatsverständnis des ersten Jahrhunderts vor Chr. üblichen Vorgang, Frieden gegen nicht willfährige Konkurrenten mit kriegerischer Gewalt zu erzwingen, also „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“.
Dieses Verständnis wiederum unterscheidet sich nicht unwesentlich von jenem der „Römischen Verträge“, dem „Gründungsdokument“ der Europäischen Union von 1957, mit dem die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland beendet und die friedliche politische Integration Europas vorangetrieben werden sollte, und gleicht eher jenem Ciceros, dem der nunmehrige EU-Ratspräsident, den Auftrag der Gründungsväter der Europäischen Union leicht missverstehend, das Wort redet, dass „wir“ bereit sein müssten, angesichts der Bedrohung durch Russland zu einer „Kriegswirtschaft“ überzugehen, dass man die militärischen Kapazitäten sowohl für die Ukraine als auch für Europa stärken müsse. „Die Ausgabe europäischer Verteidigungsanleihen zur Beschaffung von Mitteln zum Kauf von Materialien…könnte ein wirksames Mittel zur Stärkung unserer technologischen Innovation und unserer industriellen Basis sein“, um „für einen neuen Geist der Sicherheit und Verteidigung auf unserem Kontinent zu mobilisieren“ (Agenzia Nova, 18.03.2024), erklärte der furchtsame Prophet kurz nach der russischen Präsidentschaftswahl den Strategiewechsel.
Diese war nicht ganz nach dem Geschmack der westlichen Potentaten ausgegangen. „Die Wahlen sind offensichtlich weder frei noch fair“, erklärte das Weisse Haus, die eigenen Kalamitäten mit dem früheren Präsidenten Trump noch in genauer Erinnerung. Das deutsche Aussenamt bezeichnete die Wahl gar als Pseudowahl, der österreichische Aussenminister als „illegal“, deren Ergebnisse jeglicher Legitimität entbehrten, eine Diktion, die auch der ukrainische Präsident Selenskyj übernahm mit dem Hinweis, dass es kein Übel gebe, das er (Putin) nicht begehen würde, um seine persönliche Macht zu verlängern (ORF.at, 18.03.2024), was ein wenig unreflektiert und befremdlich aus dem Mund eines Mannes klingt, der die regulären Parlamentswahlen 2023 und die Präsidentschaftswahlen 2024 abgesagt hatte, weil sich die Ressourcen des Staates und der Ukrainer vielmehr auf „unseren Sieg“ über Russland richten müssten (Zeit online, 07.11.2023).
Mit der Diktion, dass Russland ein „verbrecherisches und mörderisches Regime“ und der Tod des Oppositionellen Nawalny „eine Tötung auf Raten“ sei, verstieg sich der österreichische „Chefdiplomat“ Schallenberg zu ungewohnt innovativen sprachlichen Nuancen einer sonst auf Zurückhaltung bedachten diplomatischen Praxis, ungeachtet der von Supermächten oft mit äusserster Brutalität bis zur Vernichtung geführten Auseinandersetzung mit als Staatsfeinden identifizierten Subjekten, wie die Beispiele Nawalny, Assange, Guantanamo und viele andere mehr zeigen.
Ein neues EU-Sanktionsinstrument zur Bestrafung von schweren Menschenrechtsverstössen künftig zum Gedenken nach Nawalny umzubenennen, wie vom EU-Aussenbeauftragten Borrell angedacht, ist angesichts dessen mehrmaliger und distanzloser Teilnahme an der am 4. November als „Russische Märsche“ titulierten Veranstaltung von Leuten mit fremdenfeindlicher und nationalistischer Gesinnung sowie militanten Neonazis ungeachtet seines tragischen Schicksals dann aber doch etwas übertrieben.
Wie dem auch sei, ausgestattet mit 87% Zustimmung bei einer Wahlbeteiligung von 74%, zugegebenermassen nicht mit nach mitteleuropäischen demokratischen und humanistischen Massstäben gemessenen Vertrauen für den russischen Präsidenten, den fortgesetzten Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens, dem sieggeilen ukrainischen Präsidenten, der fortwährenden Propaganda der Einheitsmedien, abgesehen von wenigen um Objektivität bemühten und deshalb verfemten Journalisten wie den ORF-Korrespondenten Christian Wehrschütz, ist die Fortsetzung der kriegerischen Auseinandersetzungen und das Sterben Tausender Menschen ukrainischer und russischer Provenienz noch sehr lange garantiert.
Si vis bellum para bellum – Wenn du den Krieg willst, führe den Krieg.