Eine der häufigsten psychischen Störungen der Kindheit versteckt sich hinter dem verwickelten Begriff „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS), einhergehend mit auffälliger Aufmerksamkeitsschwäche, extremer Unruhe und mangelnder Impulskontrolle, verbunden mit einer geringen Frustrationstoleranz, die das soziale Verhalten oft schwer beeinträchtigt. Bei manchen Kindern besteht die Krankheit über die Adoleszenz hinaus sogar bis ins Erwachsenenalter, wo sie nicht selten unerwünschte soziale Verhaltensweisen zeitigt.
So traten während der COVID-19-Pandemie bisweilen merkwürdige Haltungen im Wissenschaftsbereich zutage, als vermutlich fehlende Impulskontrolle eine wahre Aufmerksamkeitsgier evozierte, die vielleicht schlimmere Folgen zeitigte als das böse Virus selbst.
Unlängst ist eine völlig neue institutionelle Subvariante der Störung bekannt geworden, die ihren Ursprung im militärischen Bereich hat, die sogenannte ADHS-WIWHD, die „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – Wo ist wurscht, Hauptsache dabei“ – Variante.
Auslöser dieses international inzwischen weit verbreiteten Syndroms sind das Bundesheer und die österreichische Neutralität, wie gut an der gegenwärtigen Debatte über einen Entminungseinsatz in der Ukraine ersichtlich. Während sich die Verteidigungsministerin mit dem Hinweis auf Österreichs Neutralität richtigerweise einem solchen Einsatz und damit auch ihrem Oberbefehlshaber widersetzte, solange dort Krieg herrscht, fordert eben dieser Bundespräsident in Unkenntnis der völkerrechtlichen Situation, wonach einem neutralen Staat aufgrund des Interventionsverbots keine Massnahme zugunsten oder zu Lasten einer Krieg führenden Partei gestattet ist, einen „humanitären“ Entminungseinsatz.
Nun sind solche Konzentrationsstörungen nicht ganz neu. Schon bald nach der Verabschiedung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität nach Schweizer Muster als Voraussetzung für die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität zeigte sich Österreich recht erfinderisch in der Interpretation seiner Neutralität.
Zu unterschiedlich war die Ausgangslage, abgesehen vom völkerrechtlichen Aspekt der immerwährenden Neutralität, beginnend mit der deutlich schlechteren Ausstattung des Bundesheeres im Gegensatz zur Schweiz, welche die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität glaubhaft zur obersten Maxime ihrer Neutralitätspolitik machte, bis hin zum angepasst-opportunistischen Lavieren in Konflikten und der Annäherung oder dem Beitritt zu internationalen Bündnissen jeglicher Art, der in der zukünftigen Sicherheitsstrategie also neu zu formulierenden militärisch neutralen, wertemässig nicht neutralen „Einerseits-Anderseits-Neutralität“. Die genaue Definition der Werte und der geografischen Zugehörigkeit zum Westen ist allerdings bei ADHS-WIWHD-Störungen einer definitorischen Festlegung in der Verfassung schwer zugänglich, zumal Österreich eher im Osten der USA und im Westen Russlands liegt.
Man kann es jedoch dem Bundesheer nicht verdenken, dass es, seiner sinnstiftenden Identität als militärische Organisation beraubt und auf den Zivil- und Katastrophenschutz reduziert, seiner Isolation dadurch zu entgehen versuchte, sich einer Organisation anzuschliessen, die sich in einer ähnlichen institutionellen Krise befand, nämlich der Nordatlantischen Vertragsorganisation NATO. Diese 1949 zur Abschreckung gegründete und das militärische Gleichgewicht zwischen Ost und West garantierende Organisation versuchte ihrer nach der Implosion des Ostblocks und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation WVO (Warschauer Pakt) weitgehenden Funktionslosigkeit dadurch zu entkommen, dass sie einerseits eine ausreichende Militärpräsenz der USA in Europa sicherstellte, anderseits friedenserhaltende Operationen wie im Kosovo und im ehemaligen Jugoslawien durchführte, deren friedlicher Charakter allerdings bis zum heutigen Tage immer wieder mit exzessiver Gewaltbereitschaft konfligierte.
Bald schloss sich also auch Österreich nach anfänglichem Zögern der 1994 gegründeten „Partnerschaft für den Frieden“ der NATO an, der viele vor allem osteuropäische Staaten folgen sollten, und schuf damit schrittweise neue politische und militärische Realitäten, wie jüngst der Aussenminister erfahren musste, der behauptet hatte, informelle Gesprächskanäle mit der russischen Regierung zu unterhalten, worüber sich Moskau uninformiert zeigte und zu verstehen gab, dass Österreich seine unabhängige Rolle aufgegeben und das Prinzip der Neutralität längst über Bord geworfen habe.
Hin und hergerissen zwischen Hans-Guck-in-die-Luft und Zappelphilipp ist der Aussenseiter angekommen. Die Zeiten trostlosen Friedens und des seit fast 70 Jahren zu Wohlstand und langweiliger Neutralität verdammten Landes sind vorüber. Österreich endlich dabei!